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Wohin bewegt sich die Weltgesellschaft?

“Il y a deux manières de nier que l'homme ait une histoire: l'une est celle du psychologue, l'autre celle du moraliste. Elles se joignent dans l'humanisme vulgaire”. (Raymond Aron 1938) “Es gibt zwei Arten zu leugnen, dass der Mensch eine Geschichte hat: Jene des Psychologen und die andere des Moralisten. Beide verbinden sich zum Vulgär-Humanismus”.

Aktuelle Ereignisse zeigen Trends, wohin sich die globale Gesellschaft bewegt. Sechs “Gefässe” sind nach Gründern benannt: Immanuel Kant – Die zivile Welt, Adam Smith – Die eine Welt, Thomas Hobbes – Die beherrschte Welt, Jean Jacques Rousseau – Die verhandelte Welt, Konstantin Leontjew – Die eigene Welt. Ein sechstes Szenario ist Die bedrohte Welt, genannt Kassandra. Weltgesellschaft.

Die Ereignisse werden aus dem täglichen Strom der BBC-World-News erfasst. World_Observatory.

Denkwerkstatt Raumbild am Fallbeispiel Zürichs

Menschen und Gesellschaften schaffen sich Bilder, bringen darin ihre Bedürfnisse, Hoffnungen, Ängste zum Ausdruck – kurz: sie leben in ihnen. Durch sie erkennt man das Geschehen zusammen mit den Daten und Fakten, die heute zur Verfügung stehen. Und über diese hinaus.

In jedem der Gefässe finden sich spezielle Zeit-, Menschen-, Gesellschafts-, Staats- und Raumbilder (unten). Ereignisse verändern sie. Im Zuge der Finanzkrise z. B. ist das Masterbild der einen Welt in kurzer Zeit in den Schatten geraten. Kettenreaktionen sind zu beobachten: das Bild des starken Staates gewinnt hinzu. Die EU, G8, G20, die Asien- und arabischen Staaten, setzen auf die verhandelnde Gesellschaft. An anderen Orten gewinnen Grenzziehungen der eigenen Welt gegenüber internationalen Markträumen an Bedeutung. – Wir erkunden, wie das Raumbild Zürichs aus der Optik dieser Szenarien und Ideengefässe gestaltet ist.

Die zivile Welt

Die Trends führen die internationale Gesellschaft allmählich zu einer zivilen Welt, zur Vision von Kant.

Kant's Traum von der zivilen welt bürgerlichen Gesellschaft: “Die Rolle des Menschen ist also sehr künstlich; wie es mit den Einwohnern anderer Planeten und ihrer Natur beschaffen ist, wissen wir nicht; wenn wir aber diesen Auftrag der Natur gut ausrichten, so können wir uns wohl schmei- cheln, dass wir unter unseren Nachbarn im Weltgebäude nicht geringen Rang behaupten dürften. Vielleicht mag bei diesen ein jedes Individuum seine Bestimmung in seinem Leben völlig erreichen. Bei uns ist es anders; nur die Gattung kann dieses hoffen. … aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen, wo jeder, auch der kleinste, Staat seine Sicherheit und Rechte, nicht von eigener Macht, oder eigener rechtlichen Beurteilung, sondern allein von diesem grossen Völkerbunde (Foedus Amphictionum), von einer vereinigten Macht, und von der Entscheidung nach Gesetzen verei- nigten Willens, erwarten könnte.”
(Immanuel Kant 1784)



Zivile Welt auf Zürcher Art. Wenn man von den ehemaligen Gemeinden, von Hottingen, Wollishofen, Schwamendingen, Oerlikon, Wiedikon, Affoltern her, in die Stadt spaziert, spürt man das langsame Wachsen der Stadt als einem “Bund ehemaliger Dörfer”. Zürich konnte nie so recht eine “vereinigte Macht” als grosser zusammenhängender Stadtraum werden. Die gebaute Zivilisation wird immer wieder unterbrochen durch Hügel, Moränen, den See und natürliche Gestalten. Und auf Zürcher Art findet man auf Schritt und Tritt belehrende und gebietende Zeichen für ziviles Verhalten. Kant hätte wohl aus der Sicht damaliger preussischer Städte in Zürich das Grosse, die “Chausseen” der Entwicklung zur grossen städtischen Zivilisation vermisst – wie sie uns in Flächenstädten, besonders in Berlin entgegentritt. Oder ist Zürich seit den letzten Jahren auf dem Weg in diese Richtung? Auf einem kürzlichen Fachforum der Stadt Zürich über öffentliche Plätze (28.4.09) war man sich einig – es geht in die Richtung Zivilisierung heisst Disziplinierung. Verbotstafeln überall!

Die eine Welt

Die Trends führen die internationale Gesellschaft Schritt für Schritt in eine einheitliche Welt, des Marktes und Austausches, zur Vision von Adam Smith.

Smith's Traum von der einen Welt: “Das ganze jährliche Produkt von Boden und Arbeit jedes Landes oder was das Gleiche bedeutet, der ganze Wert dieses jährlichen Produktes teilt sich natürlich selber, wie bereits beobachtet wurde, in drei Teile; die Bodenrente, die Löhne der Arbeit, und die Profite auf der Börse; und diese bilden das Auskommen für drei unterschiedliche Ordnungen der Bevölkerung; jene, die von der Bodenrente leben, diejenigen, die von Löhnen leben und jene, die vom Profit leben. Dieses sind die drei grossen, ursprünglichen und konstitutiven Ordnungen jeder zivilisierten Gesellschaft; von deren Ertrag ist jede andere Ordnung absolut abhängig”. (Adam Smith 1776)









Zürich hat markante Plätze der Profitwelt diskret in die zivile Gestalt eingebaut. Der Paradeplatz ist das Beispiel. Zürich zeigt aber auch neue Karrieren. Die eine ist aussen- gerichtet; ins Limmat- und Glattal schiessen Verkehrslinien aus, entstehen Siedlungskom- plexe und neue Gestaltungen. Sie zeigen das Gesicht der modernen Stadtentwicklung im Perimeter um die Stadt. Pärke und die Gestaltung der Siedlungen übernehmen das moderne urbane Stimmungsbild. Diese neue Generation von Entwicklungen schiebt sich nach innen ins frühere Stadtbild oder hat früher hier angesetzt. Doch Zürich ist Meister im “Einwickeln”. Die Trends werden “zivilisiert” durch das Gesicht, das ihnen die Industriebrachen geben können: Neu-Oerlikon, Zürich-West, Sihlcity, Hürlimanareal, Letzigebiet sind Beispiele.

Die beherrschte Welt

Die Trends weisen auf zunehmende internationale Rivalitäten um Macht und Vorherrschaft für weltweite Ordnung und Dominanz, die Vision von Thomas Hobbes.

Hobbesche Vision der beherrschten, geordneten Welt: „Die Römer pflegten zu sagen, dass ihr General solch eine Provinz befriedet hatte, das ist in Englisch das gleiche wie zu sagen, dass sie erobert wurde; und so ein Land war dann befriedet durch den Sieg, wenn dem Volk des Landes angekündigt war, das Befohlene auszuführen, das heisst, das zu tun, was das römische Volk ihnen befahl – dies die Bedeutung von „erobert werden“. Und so habe ich meine Ausführungen über das zivile und kirchliche Regieren zu Ende gebracht, veranlasst durch die Unordnungen der Gegenwart, ohne Vorurteil, ohne Anfrage und mit keiner anderen Absicht als den Menschen die wechselseitige Beziehung zwischen Schutz und Gehorsam vor Augen zu setzen; diese Bedingung der menschlichen Natur, und die göttlichen Gesetze, sowohl das natürliche und positive, verlangen eine Beachtung, die unantastbar ist.“
(Thomas Hobbes 17. Jahrhundert)


Erobert werden. Zürich ist kein Raum, wo grosse Machtbauten, Kasernen, Polizei- und Herrschaftsgebäude den Ton angeben. Machtausübung scheint sich aus dem Raum zurückgezogen zu haben. Wo ist sie geblieben? Sie findet im “Controlling” statt: unzählige und immer neue Standards regeln das Verhalten, Konsum und Alltag; unsichtbare Daten- und Registriersysteme schlingen sich um das Individuum; die Gebäude der Geschäftswelt, der Science City, der Multiplexanlagen sind am Weekend menschenleere Geisterräume; Vehikel, Autobahnen, Verkehrslinien und die Architektur sortieren Menschen aus und trennen sie. Macht zeigt sich dann, wenn man durch die Baustellen der neuen Städte schreitet. Sie erinnern an riesige Kasernenanlagen umgeben von grossen, geometrisch angelegten Flächen, Herrschaft der Geraden, der sich auch der See ergeben muss. – Die Stadt wächst in die Orte und Dörfer im Umland hinaus. Diese Gemeinden, z. B. Opfikon, haben eine schwierige aber faszinierende Aufgabe. Nach der Bauphase beginnt die Lebensphase in diesen neuen Siedlungen. Wie kann man sie unterstützen?

Die verhandelte Welt

Die internationale Gesellschaft zeigt zunehmend Fähigkeiten Rivalitäten und Konflikte an runden Tischen erfolgreich zu verhandeln; die Vision von Jean Jaques Rousseau spielt mit.

Rousseaus' Vision der gemeinschaftlich verhandelnden Welt: „Eine Form der Assoziation, des Zusammenlebens, finden, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und die Güter aller zugehörigen Mitglieder verteidigt und schützt, und durch welche jeder, der sich mit allen vereinigt, trotzdem nur sich selber gehorcht und so frei bleibt wie vordem.“ (Jean Jacques Rousseau 1762)














Man rückt sich näher. Man muss nicht nach Afrika reisen. Auch in Zürich gibt es noch Orte, Plätze und Lokale, wo sich Häuser, Fenster, Vehikel und Menschen in die Augen schauen. Kontakte sind angelegt und die Natur beteiligt sich daran. Die Plätze sind – anstatt flach gepresst und asphaltiert – rund, gekrümmt und staubig. Je nach Jahres- und Tageszeit finden sich hier Gruppen ein, lärmige und ärmere gegenüber diskreten und eleganten. VBZ, Velos, S- und Forchbahn verraten, dass man hier nicht nur warten, ein- und aussteigen, sondern etwas verweilen will. Isolation des Einzelindividuums ist nicht der höchste Wert, man risikert Kontakte oder wird von solchen überrascht. Rund um diese Plätze gibt es Restaurants und Lokale, wo geraucht wird. Es fehlt soviel an klinischer Sauberkeit, dass Ungeziefer gar nicht so auffallen.

Die eigene Welt

Die Trends bewegen die internationale Gesellschaft ins Eigene zurück als Nation, als Imperium oder Regionen mit ihrer je eigenen Identität und Tradition; in die Vision von Konstantin Leontjew.

Leontjews Vision der eigenen Welt und Identitäten: „Der liberal-egalitäre Prozess ist das Gegenprinzip zum Prozess der Entwicklung. In diesem hält eine Idee im Inneren den Gesellschaftskörper stark zusammen (…) begrenzt die auseinander strebenden zentrifugalen Tendenzen.“ Ich wende mich kategorisch gegen Fortschritt, Liberalisierung, Gleichheit oder Individualisierung: „Der Kampf gegen jeden Despotismus, jenen der Stände, Werte, Klöster, ja sogar gegen den Despotismus des Reichtums, ist nichts anderes als ein Verfallsprozess, die Nivellierung der morphologischen Kontraste, die Zerstörung der Eigenart (…) des Gesellschaftskörpers.“ (Konstantin Leontjew Ende 19. Jahrhundert)







Identität. An einem Sonntagmorgen am Bellevue bei Föhn. Die lauten würdigen Zürcher Trams klingen eisern. Ihre Töne verstärken sich und das Föhnfenster Richtung Alpen hellt sich gelb-rötlich auf. Das Stimmungsbild legt sich über all die vielen Stimmen, Geräusche und Töne. Es lebt aus der Naturumgebung, dem Klima, dem Wetter. Wenn man Wien, Moskau oder Paris kennt, ist es klar – diese Stimmungsformation gibt es nur in Zürich, der Stadt zwischen den Moränen. Obwohl sie sich in unzählige Details, Individuen und Absichten auflösen lässt, macht sie die Stadt zu einem Gesamtkörper. An bestimmten Orten spürt man ihn besonders, an anderen ist er weniger fassbar. Wichtig ist dabei das Tramschienennetz, das auch jene Teile ins Gesamtbild einfügt, die neu, eher fremd sind oder am Stadtrand liegen. Das Eigene bewahrt das Ganze im Kampf gegen die zentrifugalen auseinander treibenden Teile. So ist das Bellevue mehr als nur ein Platz an jenem föhnigen Sonntag – es ist überall. Diese Arbeit ist ein Stück weit konservativ – wer würde sie despotisch nennen?

Die bedrohte Welt

Die Trends treiben die internationale Gesellschaft in unlösbare Probleme, in die Katastrophe; es ist die Vision “Kassandra”.

Die Weltgesellschaft erfährt die Signale ihrer Gefährdung, der Katastrophe: Zu jeder Zeit gehörten Zeichen und Signale des Untergangs, der Gefährdung, zu den wichtigen prägenden Visionen. Apokalyptische Zeitbilder und Erwartungen durchziehen die Geschichte. Die vorangehenden fünf Wege können Optimismus wecken. Stets aber sind Ereignisse des Scheiterns Anlass für Pessimismus – die Wahrnehmung der bedrohten Welt.








Stadtuntergang. Cassandra hat die Aufgabe, uns vor dem Weltuntergang zu retten. Das Weltobservatorium zeigt, dass sie an sehr vielen Stellen wirkt. Auch in der Stadt Zürich lässt sich ihre Stimme an manchen Orten hören. So tritt sie bereits in der automatischen Schnellbahn am Flug- hafen auf. Darin ist alles automatisch, geordnet, kontrolliert, geräuschlos, geisterhaft und hyperorganisiert. – Das System übrigens wird als Seilbahn behandelt und untersteht dem Eidgen. Amt direkt in Bern.
Cassandra moniert mit Virilio: wenn der Raum sein Material, die Menschen, zu Geschossen verwandelt, beginnt wohl das Ende der Stadt als Raumgestalt.

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